Martin Kutscha: Stellungnahme zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen

Für die Enquetekommission „Verfassungskonvent zur Änderung der Verfassung des Landes Hessen“ hat das AU-Bundesvorstandsmitglied Prof. Dr. Martin Kutscha eine Stellungnahme abgegeben. Den Text dokumentiert die HU Hessen ohne seine umfangreichen Quellenangaben.

Subsidiaritätsprinzip

Der Vorschlag zur Aufnahme des Subsidiaritätsprinzip in Art. 65 HessLV kann
einerseits an Elemente der katholischen Soziallehre anknüpfen, andererseits
an die Empfehlungen des im Jahre 1997 vorgelegten Abschlussberichts des von
der damaligen Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenrates „Schlanker
Staat“, als dessen Vorsitzender seinerzeit der CDU-Politiker Rupert Scholz
amtierte. Dieser Sachverständigenrat bezog sich mehrfach positiv auf das
Subsidiaritätsprinzip[1] und plädierte vor diesem Hintergrund für mehr
Privatisierung. „Privates Eigentum und privatwirtschaftliche, durch Markt
und Wettbewerb gesteuerte wie kontrollierte unternehmerische Tätigkeit
gewährleisten am besten wirtschaftliche Freiheit, ökonomische Effizienz und
Anpassung an sich verändernde Marktsituationen und damit auch Wohlstand und
soziale Sicherheit kraft gesellschaftlicher Eigenverantwortung.“[2]

Dieser Ruf nach dem „Schlanken Staat“ mutet in der gegenwärtigen Situation,
in der viele Bürger und Bürgerinnen vom Staat wirksame Maßnahmen gegen
Terrorgefahren sowie die Folgen multipler Krisenerscheinungen erwarten,
recht unzeitgemäß an. Darüber hinaus sieht sich die nicht zuletzt aus dem
Subsidiaritätsprinzip abgeleitete Forderung nach mehr Privatisierungen
Einwänden verfassungsrechtlicher, empirischer und gesellschaftspolitischer
Art ausgesetzt:

– Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der HessLV würde in
einem offenkundigen Gegensatz zu den detaillierten Bestimmungen dieser
Verfassung zur Sozial- und Wirtschaftsordnung des Landes (Art. 27 – 47)
stehen. Selbst aber das insoweit deutlich zurückhaltendere Grundgesetz hat
mit der Verankerung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1)
eine Gegenposition zum Subsidiaritätsprinzip formuliert und mit dem sog.
Funktionsvorbehalt für die „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse“ in Art.
33 Abs. 4 eine – in ihrer Reichweite allerdings umstrittene –
Privatisierungsschranke errichtet.[3]

– Die Erfahrungen mit den seit den achtziger Jahren in Deutschland
durchgeführten Privatisierungen ehemals staatlicher bzw. kommunaler
Dienstleistungsbereiche sind eher ernüchternd: Statt eines kostengünstigeren
und besseren Leistungsangebots für die Allgemeinheit wurde nicht selten das
Gegenteil bewirkt, wie z. B. der Blick auf die ohne Rücksicht auf einen
gegenteiligen Volksentscheid in Hamburg privatisierten Krankenhäuser oder
die – inzwischen überwiegend wieder rekommunalisierte – Wasserversorgung in
Berlin zeigt.[4]

– Eine Beschränkung des Staates auf die Wahrnehmung bestimmter
Kernfunktionen würde im Übrigen gerade die sozial schwachen
Bevölkerungsschichten treffen, die mangels ausreichender Finanzressourcen
bzw. eigener „Marktmacht“ auf sozialstaatliche Leistungen besonders
angewiesen sind. „Wer ohne eigene gesellschaftliche Macht oder besonderen
Schutz ist“, so der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde,
„kommt in die Lage, seine rechtliche Freiheit gegenüber den Trägern
gesellschaftlicher Macht nicht mehr realisieren zu können.“[5] Der Staat
müsse deshalb, so Böckenförde weiter, „um Freiheit für alle zur Entstehung
zu bringen, über die formale rechtliche Gewährleistung der Freiheit hinaus
auch vorhandene und entstandene gesellschaftliche Macht selbst begrenzen,
kanalisieren, sie daran hindern, dass sie gegenüber den Un-mächtigen ihre
Überlegenheit voll ins Spiel bringt und deren rechtliche Freiheit dadurch
erstickt.“[6] Solche ökonomischen bzw. gesellschaftlichen
Ungleichgewichtslagen sind unter den heutigen Bedingungen nicht die
Ausnahme, sondern eher die Regel. Es ist deshalb zu begrüßen, dass in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie in der Wissenschaft die
im Grundgesetz gewährleisteten Grundrechte nicht mehr nur als Abwehrrechte,
sondern auch als Statuierung einer Schutzpflicht des Staates im Hinblick auf
die Bedingungen freier Selbstbestimmung verstanden werden.[7] Der Umsetzung
bedarf diese Schutzpflicht zum Beispiel im Hinblick auf die moderne
Telekommunikation per Internet, bei der den Millionen von Nutzern und
Nutzerinnen eine Handvoll global agierender Internetkonzerne wie Facebook,
Google etc. gegenüberstehen, die ihre Vertragsbedingungen faktisch einseitig
diktieren können.

Wirtschaft- und Sozialverfassung

Wer heute die konsequente Umsetzung von Bestimmungen der HessLV zur
Wirtschafts- und Sozialordnung, insbesondere der Normierungen zur
Wirtschaftslenkung (Art. 38 Abs. 1) sowie zur Sozialisierung (Art. 39 – 41)
fordern würde, mag manchen heutigen Zeitgenossen nachgerade als Fall für den
Verfassungsschutz erscheinen. Dabei sind diese Bestimmungen keineswegs etwa
durch das geschickte Taktieren einer kleinen radikalen Minderheit in den
Text der Landesverfassung gelangt. Im Gegenteil: Der Konsens über die
Notwendigkeit von Sozialisierungen umfasste alle vier an der
Verfassungsgebung in Hessen beteiligten Parteien. Wie breit insoweit die
Übereinstimmung in der Bevölkerung war, zeigt das Ergebnis der von der
US-amerikanischen Militärregierung verlangten gesonderten Volksabstimmung
über Art. 41 HessLV am 1. Dezember 1946: 71, 9 Prozent der Teilnehmenden
billigte den Wortlaut dieser Norm.[8] Der juristische und politische
Widerstand gegen die Umsetzung dieser Sozialisierungsverpflichtung erwies
sich letztlich jedoch als erfolgreich, obwohl der Hess. Staatsgerichtshof in
zwei Teilurteilen vom 20. Juli 1951 und vom 6. Juni 1952 – gegen die
„herrschende Meinung“ der hierzu erstellten Gutachtenliteratur – die
Gültigkeit und unmittelbare Wirkung des Art. 41 bestätigt hatte.[9]

Gegen die weit reichenden Ermächtigungen des Staates zu Eingriffen in die
Wirtschaft in den genannten Artikeln der HssLV mag eingewandt werden, dass
diese zumindest teilweise nicht im Einklang mit dem Grundgesetz stünden und
deshalb gemäß Art. 31 GG ungültig seien. Diese Ansicht verkennt jedoch, dass
auch das Grundgesetz keinen absoluten Schutz des Eigentums statuiert,
sondern dessen Inhalts- und Schrankenbestimmung dem (einfachen) Gesetzgeber
überantwortet (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) und darüber hinaus eine Ermächtigung
zur Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und
Produktionsmitteln enthält (Art. 15 GG). In der Rechtswissenschaft
umstritten ist dabei die Frage, ob der Begriff der „Produktionsmittel“ auf
gütererzeugende Unternehmen beschränkt ist oder auch Handel, Banken,
Versicherungen oder Verkehrsbetriebe umfasst. Unter Verweis auf die
Entstehungsgeschichte und den wirtschaftswissenschaftlichen Sprachgebrauch
wird Letzteres von mehreren Autoren bejaht und damit der Begriff der
Produktionsmittel weit verstanden.[10]

Im Übrigen findet auch auf Bundesebene in gewissem Umfang
„Wirtschaftslenkung“ statt, wie das Beispiel des – im Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2016 weitgehend für
verfassungskonform erklärten[11] – Atomausstieges zeigt. Das Recht des
Staates, im Allgemeininteresse Einfluss auf die Wirtschaft zu nehmen, ist im
Grundsatz unbestritten.

Aus den oben genannten Normen ergibt sich im Umkehrschluss, dass das
Grundgesetz keineswegs auf die vielzitierten „Selbstheilungskräfte des
Marktes“ vertraut, mithin die Marktwirtschaft keineswegs festschreibt. Eine
entsprechende Verpflichtung auf die Prinzipien der Marktwirtschaft in eine
Landesverfassung aufzunehmen, würde insoweit der Verfassungsordnung des
Bundes zuwiderlaufen.

Staatszielbestimmungen

Im verfassungsrechtlichen Schrifttum wird der Begriff „Staatszielbestimmung“
nicht selten pejorativ verwendet und den als subjektiven Rechten anerkannten
und damit einklagbaren Abwehrrechten des Einzelnen gegenübergestellt. So
erfuhren vor allem die zu Beginn der neunziger Jahre geschaffenen
Verfassungen der (damals) neuen Bundesländer mit ihren zum Teil
detaillierten Normierungen von Staatszielen vehemente Kritik (vgl. z. B.
Isensee: „Pastorenverfassung“).[12] Dabei hat bereits die 1981 von den
Bundesministern des Innern und der Justiz eingesetzte
Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge“
eine präzise und treffende Definition vorgenommen: „Staatszielbestimmungen
sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der
Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter
Aufgaben – sachlich umschriebener Ziele – vorschreiben. Sie umreißen ein
bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind dadurch eine Richtlinie
oder Direktive für das staatliche Handeln, auch für die Auslegung von
Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften. Im Regelfall wendet sich eine
Staatszielbestimmung an den Gesetzgeber, ohne dass damit ausgeschlossen sein
muss, dass die Norm auch eine Auslegungsrichtlinie für Exekutive und
Rechtsprechung ist.“[13]

Anhand zweier Beispiele, nämlich des Umweltschutzes und des
Sozialstaatsprinzips, lassen sich die Leistungsfähigkeit und zugleich die
Grenzen von Staatszielbestimmungen verdeutlichen:

Das in Art. 26a HessLV formulierte Staatsziel Umweltschutz findet seine
Entsprechung nicht nur in anderen Landesverfassungen (z. B. Art. 31 BerlLV),
sondern auch in dem (1994 eingefügten und 2002 ergänzten) Art. 20a GG. Es
ist zwar kaum streitig, dass sich aus diesen Bestimmungen kein einklagbares
Recht des Bürgers oder der Bürgerin auf bestimmte umweltschützende Maßnahmen
ergibt.[14] Jedoch wird damit der Schutz der natürlichen Umwelt in
Verfassungsrang erhoben; Er kann nunmehr als gleichgewichtige Schranke für
die Ausübung z. B. der Grundrechte der Berufsfreiheit, der Eigentumsfreiheit
oder der Wissenschaftsfreiheit in verfassungsrechtlichen Streitfällen zur
Geltung gebracht werden.[15]

Der verfassungsrechtliche Stellenwert des in den Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs.
1 GG verankerten Sozialstaatsprinzips geht noch darüber hinaus. Zwar
erscheint der Begriff zunächst als vage, wenn sein ideengeschichtlicher bzw.
gesellschaftspolitischer Hintergrund[16] nicht reflektiert bzw. das Prinzip
nicht wie in den Art. 27 – 47 HessLV konkretisiert wird. Das
Bundesverfassungsgericht hat diesem Verfassungsprinzip in seiner
Rechtsprechung indessen durchaus konkrete Regelungsgehalte entnommen: Das
Sozialstaatsprinzip enthalte einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber und
verpflichte diesen, „für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu
sorgen.“[17]
– Wie diese Verpflichtung im Einzelnen umgesetzt wird, legt das Gericht
nicht fest – gerade angesichts des empirisch vielfach nachgewiesenen
Verschärfung der sozialen Gegensätze auch in Deutschland kann indes nicht
nachdrücklich genug an diese verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates
erinnert werden.

Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Sozialstaatsgebot in
Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG die
Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums abgeleitet. In seinem Urteil vom 9. Februar 2010 zum
Hartz-IV-Regelsatz heißt es: „Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung
eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil
er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch
durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines
Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines
sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen,
dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur
Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG
korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das
Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (…) und sie in
solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.“[18]
– Damit hat das Gericht der Menschenwürdegarantie in Verbindung mit dem
Sozialstaatsprinzip nicht nur eine objektivrechtliche Verpflichtung des
Staates, sondern auch ein subjektives Leistungsrecht des bedürftigen Bürgers
bzw. der bedürftigen Bürgerin entnommen und zugleich gezeigt, dass sich auch
aus Staatszielbestimmungen bestimmte konkrete verfassungsrechtliche
Bindungen ergeben, solche Bestimmungen also keineswegs als bloße
„Verfassungslyrik“ abgetan werden dürfen.

Prof. Dr. iur. Martin Kutscha

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